Mittwoch, 18. April 2018

Steve Sem-Sandberg - "Die Erwählten"



Schon ein Blick auf das Cover ließ mich erkennen, dass dieses Buch mir einige Antworten geben könnte.

Ich bin Jahrgang 1969 und somit weit entfernt vom Nationalsozialismus. Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen oder Dokumentationen. Die allgegenwärtige Frage aber nach dem: „Wie konnte das passieren? Warum haben da so viele Menschen mitgemacht? Und wie geht es den Überlebenden der Gräueltaten?“ ist trotzdem sehr präsent in meinem Leben.

Ich hatte noch nie etwas von Spiegelgrund gehört. In diesem Buch öffnete sich mir ein völlig neuer Blick auf das Erlebte in den Jahren 1941-1945 und auf die Zeit danach. Als Grundlage dieser fiktiven Geschichte, diente die Biographie von Friedrich Zawrel. Ein Mann, der mich heute - 73 Jahre später - weinen lässt und dem ich meine tiefste Anerkennung ausspreche - stellvertretend für so viele Opfer dieser Zeit.

Auch wenn mir diese Rezension schwer fallen wird, weil mir oft die Worte fehlen, will ich meine Gedanken nicht unausgesprochen lassen. Vor allem in der heutigen, schnelllebigen Zeit, der Zeit des Vergessens, der Ignoranz und der fehlenden Empathie, ist es wichtig, auf solche Werke aufmerksam zu machen.






Buch:

Steve Sem-Sandberg
Die Erwählten
Wilhelm Goldmann Verlag; September 2017
Preis: 14,00 Euro
Taschenbuch; 525 Seiten
Genre: historischer Roman



Inhalt:


Adrian Dobrosch-Ziegler ist elf Jahre alt, als er das erste Mal nach Spiegelgrund kommt. Offiziell ist dieser Ort ein Erziehungsheim und eine Nervenheilanstalt für Kinder, inoffiziell ein Euthanasie-Zentrum und Versuchslabor der Nationalsozialisten.
Zweimal gelingt ihm die Flucht, doch auch die Freiheit verspricht grausam zu sein.

Wie viel kann eine Kinderseele aushalten?


Meine Meinung:


Ich hatte vorher noch nie etwas von der Klinik Am Spiegelgrund gehört, doch die ersten Seiten klärten mich schon über die Hintergründe dieser Klinik auf.

Das Buch handelte von dem elfjährigem Adrian Dobrosch, später Ziegler. Gezeigt wurde eine Arbeiterfamilie, die ums Überleben kämpfte. Vater Alkoholiker, Mutter Arbeiterin, die ihre ganze Familie, nebst Brüder versorgte. Unter ihnen auch ein leicht zurückgebliebener Onkel. Aus dieser Familie wurde Adrian und zwei seiner Geschwister gerissen und in Pflegefamilien gesteckt. Ich fand es erschreckend, wie einfach das zu dieser Zeit wohl war. Adrian war das Paradebeispiel eines „unerwünschten Kindes“.

Es dauerte nicht lange, bis Adrian in die Klinik
Am Spiegelgrund kam und damit ein langer Leidensweg begann.

Mit jeder nun folgenden Seite wurde das Buch und auch ich immer leiser. Es vermittelte mir den Eindruck, dass erst ein Kind, dann ein Jugendlicher und schließlich ein erwachsener Mann vor mir saß und mir seine Geschichte erzählte. Sem-Sandberg verstand es auf hervorragende Weise, mich in die Tiefen einer Kinderseele mitzunehmen.
Niemals stellte ich mir die Frage, wie Adrian diese Zeit überstand, denn manche Ausführungen waren verwirrend, aber dabei derart fantasievoll erzählt, dass ich ein genaues Bild davon bekam, in welche Welt sich Adrian flüchtete. Tragisch waren die Geschehnisse, die nebenbei liefen, von kranken Kindern, über deren Behandlung und schließlich bis zu einem Selbstmord.

Zusammen mit Adrian durchlebte ich all die Gräueltaten, die man nicht einmal seinem ärgsten Feind wünscht. Selbst nach Ende des Krieges war kein Lichtblick in Sicht.
Doch ich bekam auch einen Einblick in das Leben und der Gedankenwelt der Ärzte und der Schwestern. Auf meine Frage: „Warum nur haben sie so viele schreckliche Dinge getan?“ bekam ich eine hervorragende, nachvollziehbare, wenn auch nicht akzeptable Antwort.
Schließlich ließ der Autor mich an gerichtlichen Prozessen teilnehmen und an dem Leben des Adrian Ziegler danach.

Diese vielen Bilder und Eindrücke sind mit soviel Lebendigkeit und Leidenschaft geschrieben, dass ich sie wohl nie wieder vergessen werde.
Ein Buch, das mich zu Tränen rührte.


Fazit:


Ein Buch, dessen Tiefen nicht schwärzer sein könnten.
Sem-Sandberg erzählt hier die Geschichte eines Jungen und einer Krankenschwester, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Still und leise erlebt man hier viele Jahre des Leidens, der Angst und des Kampfes um das blanke Überleben.
Ich empfehle es allen Lesern, die sich wie ich nicht damit abfinden wollen, dass das alles doch längst der Vergangenheit angehört. Denn wir sollten niemals die Folgen von Fremdenhass, fehlender Empathie und Ignoranz vergessen.

Dieses Buch war wohl das schwerste und bewegendste Buch, welches ich in den letzten Jahren gelesen habe.
5 von 5 Sternen
*****

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen