Montag, 18. Dezember 2017

Türchen 17

Ohne große Umschweife heiße ich dich beim 17. Türchen des „Bücherblog-Freyheit-Adventskalender“´s willkommen. Aber jetzt zurück zu Sam, Alec und Nate.

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _


Als ich die Augen aufschlug, war ich mir einen Moment nicht sicher, ob ich vielleicht noch träumen würde. Mein Körper fühlte sich unnatürlich leicht an. Ich konnte meine Glieder kaum spüren. Doch als ich den Kopf anhob, um an mir herunterzublicken, durchfuhr mich ein einnehmender Schmerz. Der Muskelkater war ein Attribut der anstrengenden Suche. Stöhnend rieb ich mir über das Gesicht. Ich spürte, wie die Angst um Nate und Wilson sich langsam zurück in meine Gedanken schlich, aber noch versuchte ich sie weitestgehend zu unterdrücken. Ich fühlte mich noch nicht bereit, die Wahrheit zu erfahren. Letztlich überwältigten meine Gefühle mich doch und ich sprang, so schnell es meine erschöpften Glieder zuließen, aus dem Bett. Im Haus war es ungewohnt still. Vielleicht waren die anderen im Krankenhaus? Aber sie hätten mich sicher nicht allein gelassen. Ich stieß die Tür zu Nates Zimmer auf – es war leer. Panik machte sich in mir breit. Als ich nach meinen Eltern rufen wollte, kam nur ein unverständliches Kratzen aus meiner zerschundenen Kehle. Das Schlafzimmer meiner Eltern war leer, das Bett unangetastet. Auch in der Küche war niemand anzutreffen. Zwei halbvolle Gläser Wein standen auf dem Esstisch. Eine abgebrannte Kerze hatte Wachs auf der Mitte des Holztisches verteilt.
„Wilson?“, rief ich, als ich den sauberen Napf hochhob.
Keine Krallen auf Holz. Keine schweren, langsamen Schritte auf der Treppe. Wilson war nicht hier.
Plötzlich hörte ich ein leises Geräusch aus dem Wohnzimmer. Ohne zu zögern folgte ich diesem. Alec stand am Fenster, so wie an dem Abend, als ich heimgekommen bin. Auch jetzt konnte ich sein Gesicht nicht sehen, weil er mir den Rücken zugewandt hatte. Er drehte leicht den Kopf, als er mich ins Zimmer stolpern hörte.
„Alec? Was ist hier los?“, fragte ich heiser.
Er seufzte tief, presste seine Handfläche an das Fensterglas, als könne er dadurch auf die andere Seite gelangen und ließ den Kopf angeschlagen hängen. Sein Anblick versetzte mich emotional in die Zeit kurz vor unserer Trennung. Als er fast jede Nacht einen Schub hatte und sich zu einer ernsten Gefahr für mich entwickelt hatte. Als er sich endlich eingestand, dass er ohne Hilfe das Erlebte nicht verarbeiten würde können. Als er endlich die Worte des Arztes nutzte, die er so lange gemieden hatte: Alec hatte eine posttraumatische Störung.
„Wo sind sie, Alec?“, fragte ich unter Tränen.
„Es tut mir so leid, Samantha.“, flüsterte er.
Sein heißer Atem beschlug die Scheibe. Er mied noch immer meinen angsterfüllten Blick.
„Nate..?“, mehr brachte ich nicht heraus.
Die Hand an der Scheibe formte sich zu einer Faust. Ich schlug mir schockiert die Hände vor das Gesicht. Das konnte nicht sein! Das dürfte nicht wahr sein!
„Er lebt.“, sagte Alec schnell, als er mein ersticktes Schluchzen hörte. „Aber er ist nicht wieder zu Bewusstsein gekommen.“
Und endlich drehte er sich zu mir und ich konnte ihm ins Gesicht sehen. Er war unrasiert und hatte dunkle, schwarze Schatten unter den müden Augen. Jemand hatte ihm die Nase gebrochen. Er trug die gleiche Kleidung, wie zum Zeitpunkt der Suche.
„Wie lange war ich weg?“
Meine Stimme zitterte weniger, als ich bei meinem Zustand vermutet hätte.
„Ein paar Stunden. Deine Eltern sind bei Nate im Krankenhaus. Sie wollten, dass ich abreise.“, erzählte er schwach. „Verständlicher weise.“, fügte er hinzu und schloss schmerzerfüllt die Augen.
„Warum bist du dann noch hier?“, wollte ich wissen.
Ein neues Gefühl mischte sich ein: Wut. Er wusste, in welchem Zustand er sich befand. Er wusste, dass er eine Gefahr für sein Umfeld darstellte und war trotzdem der Einladung meiner Eltern gefolgt. Das war alles seine Schuld!
Er hob den Blick und sah mir zum ersten Mal seit dem Vorfall in die Augen. Überwältigt stolperte ich einen Schritt nach hinten. Ich hatte noch nie so viel Schmerz in jemandes Gesicht gesehen. Nicht einmal, als ich ihn gebeten hatte, unsere Wohnung und mich zu verlassen. Vielleicht hätte ich ebenfalls einiges verhindern können, wäre ich offen und ehrlich zu meiner Familie gewesen.
Mich überfiel das Verlangen nach Nähe – körperlich und emotional. Ich schlang die Arme um seinen kräftigen Oberkörper und er zog mich in einer besitzergreifenden Geste dichter an sich. Wir hielten uns eine ganze Weile aneinander fest und lösten uns erst voneinander, als das Telefon klingelte. Aber als ich zum Telefon ging, um den Anruf anzunehmen, hielten wir uns noch immer an den Händen.
„Ja?“, krächzte ich in den Hörer.
„Sammy? Hier ist Dad.“, sagte die ruhige, aber angeschlagene Stimme meines Vaters am anderen Ende der Leitung.
„Dad! Wie geht es Nate?“, erkundigte ich mich sofort.
„Der Arzt sagt, sein Zustand sei stabil. Er habe das Gröbste überstanden. Aber sie sind sich nicht sicher, ob er... den Unfall... unbeschadet überstehen wird, da die Sauerstoffzufuhr zu seinem Gehirn vielleicht zu lange... unterbrochen worden war.“, erklärte mein Vater, wobei er angestrengt auf seine Wortwahl achtete.
„Heißt das, er liegt im Koma?“, hakte ich atemlos nach. Alec drückte unterstützend meine Hand.
„Das heißt, deine Mutter und ich nehmen uns ein Zimmer im örtlichen Hotel.“, antwortete mein Vater ausweichend, aber mit fester Stimme.
„Gut. Ich komme auch.“, sagte ich.
Alec kniff bedauernd die Augen zusammen. Er wusste etwas, das mir unbekannt war.
„Das wird nicht möglich sein, Schatz.“, bestätigte mein Vater. „Der ganze Ort ist zugeschneit. Wir können froh sein, dass ein Rettungshubschrauber in der Nähe war und Nathan dadurch so schnell wie möglich Hilfe bekommen konnte.“
„Aber ich muss zu ihm.“, widersprach ich schwach.
„Wenn er wach ist, erkläre ich es ihm.“, versprach er. „Kümmere du dich um dich selbst. Gehe nicht hinaus, Samantha!“ Es folgte eine lange Pause. „Ist Alexander noch da?“, fragte er dann.
„Ja.“
„Dann sei vorsichtig, Sammy! Halte dich von ihm fern.“, bat mein Vater beinah flehend.
Ich sagte nichts.
„Frohe Weihnachten, Schatz. Wir melden uns.“, beendete mein Vater nach einer Weile Schweigen das Telefonat und ich legte den Hörer zurück auf die Station.
Alec musterte mich interessiert. Er hob fragend die Augenbrauen.
„Es ist Weihnachten.“, bemerkte ich.
Sofort kehrte Leben in Alecs trauriges, schuldbewusstes Gesicht zurück.
„Wir können trotzdem feiern.“, versicherte er mir tatkräftig.
„Mir ist nicht nach Feiern zumute.“
Bevor ich wegen seines verletzten Blicks Schuldgefühle bekam, flüchtete ich mich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Als mein Blick auf Wilsons Decke fiel, brach ich zusammen.

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 


Bücherblog-Freyheit wünscht dir einen schönen 3. Advent!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen